Alte Märchen

#54 Alte Märchen - Gevatter Tod

Ein Märchen der Gebrüder Grimm

Veröffentlicht am 20.12.2020 / 00:01

Anmerkungen
Ein Märchen der Gebrüder Grimm

In unserem heutigen Märchen muss ein armer Mann eine schwere Entscheidung treffen und sein dreizehntes Kind in die Obhut eines Anderen geben. Trifft er die richtige Wahl? Kann der neue Pate des Kindes ihm zu seinem Glück verhelfen?

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Gevatter Tod

Es hatte ein armer Mann zwölf Kinder und musste Tag und Nacht arbeiten, damit er ihnen nur Brot geben konnte. Als nun das dreizehnte zur Welt kam, wusste er sich in seiner Not nicht mehr zu helfen, lief hinaus auf die große Landstraße und wollte den ersten, der ihm begegnete, zum Taufpaten bitten. Der erste, der ihm begegnete, das war der liebe Gott. Der wusste schon, was er auf dem Herzen hatte, und sprach zu ihm: "Armer Mann, du tust mir leid, ich will dein Kind aus der Taufe heben, will für es sorgen und es glücklich machen auf Erden." Der Mann sprach: "Wer bist du?" - "Ich bin der liebe Gott." - "So will ich dich nicht zum Taufpaten," sagte der Mann, "du gibst den Reichen und lässet den Armen hungern." Das sprach der Mann, weil er nicht wusste, wie weislich Gott Reichtum und Armut verteilt. Also wendete er sich von Gott ab und ging weiter. Da trat der Teufel zu ihm und sprach: "Was suchst du? Willst du mich zum Paten deines Kindes nehmen, so will ich ihm Gold in Hülle und Fülle und alle Lust der Welt dazu geben." Der Mann fragte: "Wer bist du?" - "Ich bin der Teufel." - "So will ich dich auch nicht zum Taufpaten," sprach der Mann, "du betrügst und verführst die Menschen." Er ging weiter. Da kam der dürrbeinige Tod auf ihn zugeschritten und sprach: "Nimm mich zum Taufpaten." Der Mann fragte: "Wer bist du?" - "Ich bin der Tod, der alle gleichmacht." Da sprach der Mann: "Du bist der Rechte, du holst die Reichen genauso wie die Armen ohne Unterschied, du sollst mein Taufpate sein." Der Tod antwortete: "Ich will dein Kind reich und berühmt machen, denn wer mich zum Freunde hat, dem kann es nicht schlecht gehen." Der Mann sprach: "Nächsten Sonntag ist die Taufe, sei pünktlich da." Der Tod erschien, genau so wie er versprochen hatte, und er wurde Taufpate.

Als der Knabe älter geworden war, trat zu einer Zeit der Pate ein und befahl ihm mitzugehen. Er führte ihn hinaus in den Wald, zeigte ihm ein Kraut, das da wuchs, und sprach: "Jetzt sollst du dein Patengeschenk empfangen. Ich mache dich zu einem berühmten Arzt. Wenn du zu einem Kranken gerufen wirst, so will ich dir jedesmal erscheinen. Stehe ich zu den Köpfen des Kranken, so kannst du keck sprechen, du wolltest ihn wieder gesund machen, und gibst du ihm dann von diesem Kraut, so wird er wieder gesund. Stehe ich aber zu Füßen des Kranken, so ist er mein, und du musst sagen, dass alle Hilfe umsonst wäre und kein Arzt in der Welt ihn retten könnte. Aber hüte dich, dass du das Kraut nicht gegen meinen Willen gebrauchst, es könnte dir sonst schlimm ergehen!"

Es dauerte nicht lange, so war der Jüngling der berühmteste Arzt auf der ganzen Welt. "Er braucht nur den Kranken anzusehen, dann weiß er schon, wie es um sie steht, ob er wieder gesund wird oder ob er sterben muss," so sprachen die Leute von ihm, und weit und breit kamen die Leute herbei, holten ihn zu den Kranken und gaben ihm so viel Gold, dass er bald ein reicher Mann war. Nun trug es sich zu, dass der König erkrankte. Der Arzt wurde gerufen und sollte sagen, ob Genesung möglich wäre. Doch als er aber am Bett stand, so stand der Tod zu den Füßen des Kranken, und da war für ihn kein Kraut mehr gewachsen. "Wenn ich doch nur einmal den Tod überlisten könnte," dachte der Arzt, "er wird's mir bestimmt übelnehmen, aber da ich sein Pate bin, vielleicht drückt er da ein Auge zu, ich will's wagen." Er fasste also den Kranken und legte ihn verkehrt herum ins Bett, sodass der Tod zu Kopf desselben zu stehen kam. Dann gab er ihm ein bisschen von dem Kraut, und der König erholte sich und wurde wieder gesund. Der Tod aber kam zum Arzt, machte ein böses und finsteres Gesicht, drohte mit dem Finger und sagte: "Du hast mich hinter das Licht geführt, diesmal will ich dir's nachsehen, weil du mein Pate bist, aber wagst du das noch einmal, so geht es dir an den Kragen, und ich nehme dich selbst mit fort."

Bald danach verfiel die Tochter des Königs in eine schwere Krankheit. Sie war sein einziges Kind, er weinte Tag und Nacht, sodass ihm die Augen erblindeten, und er ließ bekanntmachen, wer sie vom Tode errettete, der sollte ihr Gemahl werden und die Krone erben. Als der Arzt, zum Bett der Kranken kam, erblickte den Tod zu ihren Füßen. Er hätte sich an die Warnung seines Paten erinnern sollen, aber die große Schönheit der Königstochter und das Glück, ihr Gemahl zu werden, betörten ihn so sehr, dass er alle Gedanken in den Wind schlug. Er sah nicht, dass der Tod ihm zornige Blicke zuwarf, die Hand in die Höhe hob und mit der dürren Faust drohte. Er hob die Kranke auf, legte ihren Kopf dahin, wo die Füße gelegen hatten. Dann gab er ihr das Kraut, und bald schon regte sich das Leben von neuem.

Der Tod, der er sich nun zum zweiten mal um sein Eigentum betrogen sah, ging mit langen Schritten auf den Arzt zu und sprach: "Es ist aus mit dir, und jetzt bist du an der Reihe," Der Tod packte den Arzt mit seiner eiskalten Hand so hart, dass er nicht mehr wehren konnte, und führte ihn in eine unterirdische Höhle. Da sah er, wie tausende und abertausende Lichter in unübersehbaren Reihen brannten, einige groß, andere halbgroß, andere klein. Jeden Augenblick verloschen einige, und andere brannten wieder auf, sodass die Flämmchen in beständigem Wechsel zu sein schienen. "Siehst du," sprach der Tod, "das sind die Lebenslichter der Menschen. Die großen gehören Kindern, die halbgroßen Eheleuten in ihren besten Jahren, die kleinen gehören Greisen. Doch auch Kinder und junge Leute haben oft nur ein kleines Lichtchen." - "Zeige mir mein Lebenslicht," sagte der Arzt und meinte, es wäre noch recht groß. Der Tod deutete auf ein kleines Endchen, das eben auszugehen drohte, und sagte: "Siehst du, da ist es." - "Ach, lieber Pate," sagte der erschrockene Arzt, "zündet mir ein neues an, tu es mir zuliebe, damit ich König werde und Gemahl der schönen Königstochter." - "Ich kann nicht," antwortete der Tod, "erst muss eins verlöschen, bevor ich ein neues anbrennen kann." - "So setzt das alte auf ein neues, das gleich fortbrennt, wenn das Andere zu Ende ist," bat der Arzt. Der Tod tat so, als ob er seinen Wunsch erfüllen wollte, brachte ein frisches, großes Licht herbei, aber weil er sich rächen wollte, vertat er sich beim Umstecken absichtlich, und das kleine Stöckchen fiel um und verlosch. Sofort sank der Arzt zu Boden und war nun selbst in die Hand des Todes geraten.