Alte Märchen

#50 Alte Märchen - Das Rätsel

Ein Märchen der Gebrüder Grimm

Veröffentlicht am 22.11.2020 / 00:01

Anmerkungen
Ein Märchen der Gebrüder Grimm

Ein junger Prinz reist durch die Welt und erlebt allerlei Abenteuer. Von einer boshaften Hexe bis zu gefährliche Banditen ist alles dabei. Kann unser Held allen Gefahren trotzen und sein Happy-End finden?

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Das Rätsel

Es war einmal ein Königssohn, der hatte Lust, in der Welt umherzureisen, und nahm niemand mit als einen treuen Diener. Eines Tags geriet er in einen großen Wald, und als der Abend kam, konnte er keine Herberge finden und er wusste nicht, wo er in der Nacht schlafen sollte. Da sah er ein Mädchen, das nach einem kleinen Häuschen zuging, und als er näher kam, sah er, dass das Mädchen jung und schön war. Er sprach es an und sagte "liebes Kind, kann ich und mein Diener in diesem Häuschen für die Nacht einen Schlafplatz haben?" - "Ach ja," sagte das Mädchen mit trauriger Stimme, "das könnt ihr wohl, aber ich rate euch nicht dazu. Geht nicht hinein." - "Warum soll ich das nicht?" fragte der Königssohn. Das Mädchen seufzte und sprach "meine Stiefmutter treibt böse Künste, sie meint es nicht gut mit Fremden."

Da merkte der junge Prinz, dass er am Hause einer Hexe angekommen war, doch weil es dunkel wurde und er nicht weiter konnte, sich auch nicht fürchtete, so trat er ein. Die Alte saß auf einem Lehnstuhl beim Feuer und sah mit ihren roten Augen die Fremden an. "Guten Abend," schnarrte sie und tat ganz freundlich, "lasst euch ruhig nieder und ruht euch aus." Sie blies die Kohlen an, auf welchen sie in einem kleinen Topf etwas kochte. Die Tochter warnte die beiden, vorsichtig zu sein, nichts zu essen und nichts zu trinken, denn die Alte braut böse Getränke.

Sie schliefen ruhig bis zum nächsten Morgen. Und als sie sich zur Abreise fertig machten und der Königssohn schon zu Pferde saß, sprach die Alte "wartet einen Augenblick, ich will euch erst noch einen Abschiedstrunk machen." Während sie ihn holte, ritt der Königssohn fort, und der Diener, der seinen Sattel festschnallen musste, war nur noch alleine da, als die böse Hexe mit dem Trank kam. "Das bring deinem Herrn," sagte sie, aber in dem Augenblick sprang das Glas, und das Gift spritzte auf das Pferd, und war so heftig, dass das Tier gleich tot hinstürzte. Der Diener lief seinem Herren nach und erzählte ihm, was passiert war, aber er wollte den Sattel nicht im Stich lassen und lief zurück, um ihn zu holen. Wie er aber zu dem toten Pferde kam, saß schon ein Rabe darauf und fraß etwas davon. "Wer weiß, ob wir heute noch etwas besseres zu Essen bekommen," sagte der Diener, tötete den Raben und nahm ihn mit.

Nun zogen sie im Walde den ganzen Tag weiter, konnten aber nicht herauskommen. Bei Anbruch der Nacht fanden sie endlich ein Wirtshaus und gingen hinein. Der Diener gab dem Wirt den Raben, den er zum Abendessen bereiten sollte. Aber sie waren in eine Mördergrube geraten, und in der Dunkelheit kamen zwölf Mörder und wollten die Fremden umbringen. Ehe sie sich aber ans Werk machten, da setzten sie sich alle zu Tisch, und der Wirt und die Hexe setzten sich zu ihnen, und sie aßen alle zusammen eine Schüssel mit der Suppe, in die das Fleisch des Raben gehackt war.

Kaum aber hatten sie ein paar Bissen heruntergeschluckt, so fielen alle tot nieder, denn vom dem Raben war das Gift von dem Pferdefleisch in das Essen geraten. Und nun lebte niemand mehr in dem Haus außer die Tochter des Wirts, die es redlich meinte und an den gottlosen Dingen keinen Teil genommen hatte. Sie öffnete dem Fremden alle Türen und zeigte ihm die angehäuften Schätze. Der Königssohn aber sagte, sie möchte alles behalten, er wollte nichts davon, und ritt mit seinem Diener weiter.

Nachdem sie lange herumgezogen waren, kamen sie in eine Stadt, worin eine schöne, aber übermütige Königstochter lebte, die hatte nämlich bekanntmachen lassen, wer ihr ein Rätsel vorlegte, das sie nicht erraten könnte, der solle ihr Gemahl werden. Aber wenn sie es errät, so müßte er sich das Haupt abschlagen lassen. Drei Tage hatte sie Zeit, sich zu besinnen, sie war aber so klug, dass sie immer die vorgelegten Rätsel vor der bestimmten Zeit erriet. Schon waren neune auf diese Weise umgekommen, als der Königssohn ankam und, von ihrer großen Schönheit geblendet, sein Leben daransetzen wollte.

Da trat er vor sie hin und gab ihr sein Rätsel auf, "was ist das," sagte er, "einer schlug keinen und schlug doch zwölfe." Sie wußte nicht, was das war. Sie dachte ständig darüber nach, aber sie kam zu keinem Ergebnis: sie schlug ihre Rätselbücher auf, aber es stand nicht darin: kurz, ihre Weisheit war zu Ende. Da sie sich nicht zu helfen wusste, befahl sie ihrer Magd, in das Schlafgemach des Herrn zu schleichen, da sollte sie seine Träume behorchen, und dachte: "vielleicht redet er darüber im Schlaf und verrät das Rätsel. Aber der kluge Diener hatte sich statt des Herrn ins Bett gelegt, und als die Magd herankam, riß er ihr den Mantel ab, in den sie sich verhüllt hatte, und jagte sie mit der Rute hinaus.

In der zweiten Nacht schickte die Königstochter ihre Kammerjungfer, die sollte sehen, ob es ihr mit Horchen besser gelingt, aber der Diener nahm auch ihr den Mantel weg und jagte sie mit einer Rute hinaus. Nun glaubte der Herr für die dritte Nacht sicher zu sein und er legte sich in sein Bett. Aber in der dritten Nacht da kam die Königstochter. Sie selbst hatte einen nebelgrauen Mantel angezogen und setzte sich neben ihn. Und als sie dachte, er schliefe und träumte, so redete sie ihn an und hoffte, er werde im Traum antworten.

Aber der Königssohn war wach und verstand und hörte alles was sie sagte. Da fragte sie "einer schlug keinen, was ist das?" Er antwortete "ein Rabe, der von einem toten und vergifteten Pferd fraß und davon starb." Weiter fragte sie "und schlug doch zwölfe, was ist das?" - "Das sind zwölf Mörder, die den Raben verzehrten und dann starben."

Als sie die Lösung des Rätsels kannte, wollte sie sich fortschleichen, aber der Königssohn hielt ihren Mantel fest, sodass sie ihn zurücklassen musste. Am andern Morgen verkündigte die Königstochter, sie habe das Rätsel erraten, und ließ die zwölf Richter kommen und löste es vor ihnen. Aber der Jüngling bat darum noch einmal sprechen zu dürfen und sagte "sie ist in der Nacht zu mir geschlichen und hat mich ausgefragt, denn sonst hätte sie es nie erraten." Die Richter sprachen "bringt uns einen Beweis." Da wurden die drei Mäntel von dem Diener herbeigebracht, und als die Richter den nebelgrauen erblickten, den die Königstochter zu tragen pflegte, da sagten sie "laßt den Mantel sticken mit Gold und Silber, denn es wird Euer Hochzeitsmantel sein."