Alte Märchen

#49 Alte Märchen - Die weiße Schlange

Ein Märchen der Gebrüder Grimm

Veröffentlicht am 15.11.2020 / 00:01

Anmerkungen
Ein Märchen der Gebrüder Grimm

Sprechende Tiere, unlösbare Aufgaben und helfende Hände - Davon gibt es in unserem heutigen Märchen mehr als genug. Was aber hat eine weiße Schlange damit zu tun?

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Die weiße Schlange

Es ist nun schon lange her, da lebte ein König, dessen Weisheit im ganzen Lande berühmt war. Nichts blieb ihm unbekannt und es war, als ob ihm Nachricht von den verborgensten Dingen durch die Luft erzählt würde. Er hatte aber eine seltsame Sitte. Jeden Mittag, wenn von der Tafel alles abgetragen und niemand mehr anwesend war, musste ein vertrauter Diener noch eine weitere Schüssel bringen. Sie war aber zugedeckt, und der Diener selbst wusste nicht, was darinlag, und kein anderer Mensch wüsste es, denn der König deckte sie nicht eher auf und aß nicht davon, bis er ganz allein war. Das hatte schon lange Zeit gedauert, da überkam eines Tages den Diener, der die Schüssel wieder wegtragen musste, die Neugierde, sodass er nicht widerstehen konnte, sondern die Schüssel in seine Kammer brachte. Als er die Tür sorgfältig verschlössen hatte, hob er den Deckel auf und da sah er, dass eine weiße Schlange darinlag. Bei ihrem Anblick konnte er die Lust nicht zurückhalten. Er musste sie kosten. Er schnitt ein Stückchen davon ab und steckte es in den Mund. Kaum aber hatte es seine Zunge berührt, da hörte er vor seinem Fenster ein seltsames Gewisper von feinen Stimmen. Er ging hinaus und horchte, da merkte er, dass es die Sperlinge waren, die miteinander sprachen und sie sich allerlei erzählten, was sie so im Feld und im Wald gesehen hatten. Der Genuss der Schlange hatte ihm die Fähigkeit verliehen, die Sprache der Tiere zu verstehen.

Nun trug es sich zu, dass gerade an diesem Tage der Königin ihr schönster Ring fortkam und auf den vertrauten Diener, der überall Zugang hatte, der Verdacht fiel, er habe ihn gestohlen. Der König ließ ihn vor sich kommen und drohte ihm mit heftigen Schimpfworten, dass wenn er bis morgen den Täter nicht nennen konnte, so sollte er dafür verurteilt und hingerichtet werden. Es half nichts, dass er seine Unschuld beteuerte, er wurde mit keinem besseren Urteil entlassen. In seiner Unruhe und Angst ging er hinab in den Hof und dachte, wie er sich aus seiner Not helfen könne. Da saßen die Enten an einem fließenden Wasser friedlich nebeneinander und ruhten, sie putzten sich mit ihren Schnäbeln glatt und hielten ein vertrauliches Gespräch. Der Diener blieb stehen und hörte ihnen zu. Sie erzählten sich, wo sie heute morgen überall herumgewackelt wären und was für tolles Futter sie gefunden hätten. Da sagte eine: "Mir liegt etwas schwer im Magen, ich habe einen Ring, der unter dem Fenster der Königin lag, in der Hast mit hinuntergeschluckt." Da packte sie der Diener gleich beim Kragen, trug sie in die Küche und sprach zum Koch: "Schlachte diese hier ab, die ist doch wohlgenährt." - "Ja," sagte der Koch und wog sie in der Hand; "die hat keine Mühe gescheut sich zu mästen und schon lange darauf gewartet, gebraten zu werden." Er schnitt ihr den Hals ab, und als sie ausgenommen wurde, fand sich der Ring der Königin in ihrem Magen. Der Diener konnte nun leicht vor dem König seine Unschuld beweisen, und da der König sein Unrecht wieder wettmachen musste, erlaubte er ihm, sich eine Gnade auszubitten und versprach ihm die größte Ehrenstelle, die er sich an seinem Hofe wünschte.

Der Diener schlug alles aus und bat nur um ein Pferd und etwas Reisegeld. Denn er hatte Lust, die Welt zu sehen und eine Weile darin herumzuziehen. Als seine Bitte erfüllt war, machte er sich auf den Weg und kam eines Tages an einem Teich vorbei, wo er drei Fische bemerkte, die sich im Rohr gefangen hatten und nach Wasser schnappten. Obwohl man sagt, Fische wären stumm, so vernahm er doch ihre Klage, das sie so elend umkommen müssten. Weil er ein mitleidiges Herz hatte, so stieg er vom Pferde ab und setzte die drei gefangenen Fische wieder ins Wasser. Sie zappelten vor Freude, steckten die Köpfe heraus und riefen ihm zu: "Vielen Dank! Wir wollen dir's gedenken und dir's vergelten, dass du uns errettet hast!" Er ritt weiter, und nach einem Weilchen kam es ihm vor, als hörte er zu seinen Füßen in dem Sand eine Stimme. Er horchte und er vernahm, wie ein Ameisenkönig klagte: "Wenn uns nur die Menschen mit den ungeschickten Tieren vom Leib blieben! Da tritt mir das dumme Pferd mit seinen schweren Hufen meine Leute ohne Barmherzigkeit nieder!" Der Diener lenkte auf einen Seitenweg ein, und der Ameisenkönig rief ihm zu: "Danke! Wir wollen dir's gedenken und dir's vergelten!" Der Weg führte ihn in einen Wald, und da sah er einen Rabenvater und eine Rabenmutter, die standen bei ihrem Nest und warfen ihre Jungen heraus. "Fort mit euch, ihr Galgenschwengel!" riefen sie, "wir können euch nicht mehr satt machen, ihr seid groß genug und ihr könnt euch selbst ernähren." Die armen Jungen lagen auf der Erde, flatterten und schlugen mit ihren Fittichen und schrien: "Wir hilflosen Kinder, wie sollen wir uns selbst ernähren, wir können noch nicht fliegen! Was bleibt uns übrig, als hier an Hunger zu sterben!" Da stieg der gute Jüngling ab, tötete sein Pferd mit seinem Degen und überließ es den jungen Raben zum Futter. Die kamen herbeigehüpft, sättigten sich und riefen: "Danke! Wir wollen dir's gedenken und dir's vergelten!"

Der Jüngling musste jetzt also laufen, und als er lange Wege gegangen war, kam er in eine große Stadt. Da war großer Lärm und Gedränge in den Straßen und einer kam zu Pferde und machte bekannt: Die Königstochter suche einen Gemahl, wer sich aber um sie bewerben wolle, der müsse eine schwere Aufgabe vollbringen, und könne er diese nicht glücklich umsetzen, so habe er sein Leben verwirkt. Viele hatten es schon versucht, aber vergeblich ihr Leben daran gesetzt. Als der Jüngling die Königstochter sah, ward von ihrer großen Schönheit so verblendet, sodass er alle Gefahr vergaß, vor den König trat und sich als Freier meldete.

Sofort wurde er hinaus ans Meer geführt und vor seinen Augen ein goldener Ring hineingeworfen. Dann befahl ihm der König diesen Ring von dem Meeresgrund wieder hervorzuholen, und fügte hinzu: "Wenn du ohne ihn wieder in die Höhe kommst, so wirst du immer aufs neue hinabgestürzt, bis du in den Wellen umkommst." Alle bedauerten schon den schönen Jüngling und sie ließen ihn einsam am Meer zurück. Er stand am Ufer und überlegte, was er wohl tun sollte. Da sah er auf einmal drei Fische daherschwimmen, und es waren keine andern als die, denen er das Leben gerettet hatte. Der mittlere hielt eine Muschel im Mund, die er an den Strand zu den Füßen des Jünglings hinlegte, und als dieser sie aufhob und öffnete, so lag der Goldring darin. Voller Freude brachte er ihn dem Könige und erwartete, dass er den versprochenen Lohn bekommen würde. Die stolze Königstochter aber, als sie vernahm, das er ihr nicht ebenbürtig war, verschmähte ihn und verlangte, er solle zuvor eine zweite Aufgabe lösen. Sie ging hinab in den Garten und streute selbst zehn Säcke voll Hirse ins Gras. "Die muss er morgen, bevor die Sonne hervorkommt, aufgelesen haben," sprach sie, "und es darf kein Körnchen fehlen." Der Jüngling setzte sich in den Garten und dachte nach, wie es möglich wäre, diese Aufgabe zu lösen; aber ihm viel nichts ein, deswegen saß er ganz traurig da und erwartete bei Anbruch des Morgens, zum Tode geführt zu werden. Als aber die ersten Sonnenstrahlen in den Garten fielen, so sah er die zehn Säcke alle wohlgefüllt nebeneinander stehen, und kein Körnchen fehlte darin. Der Ameisenkönig war mit seinen tausend und tausend Ameisen in der Nacht angekommen, und die dankbaren Tiere hatten die Hirse mit großer Emsigkeit gelesen und in die Säcke gesammelt. Die Königstochter kam selbst in den Garten herab und sah mit Verwunderung, dass der Jüngling die Aufgabe gemeistert hatte. Aber sie konnte ihr stolzes Herz noch nicht bezwingen und sprach: "Hat er auch die beiden Aufgaben gelöst, so soll er doch nicht eher mein Gemahl werden, bis er mir einen Apfel vom Baume des Lebens gebracht hat." Der Jüngling wusste nicht, wo der Baum des Lebens stand. Er machte sich auf und wollte immer weiter gehen, solange ihn seine Beine trügen, aber er hatte keine Hoffnung, ihn zu finden. Als er schon durch drei Königreiche gewandert war und abends in einen Wald kam, setzte er sich unter einen Baum und wollte schlafen. Da hörte er in den Ästen ein Geräusch und ein goldener Apfel fiel in seine Hand. Zugleich flogen drei Raben zu ihm herab, setzten sich auf seine Knie und sagten: "Wir sind die drei jungen Raben, die du vom Hungertod errettet hast. Als wir groß geworden waren und hörten, dass du den goldenen Apfel suchst, so sind wir über das Meer geflogen bis ans Ende der Welt, wo der Baum des Lebens steht, und wir haben dir diesen Apfel geholt." Voll Freude machte sich der Jüngling auf den Heimweg und brachte der schönen Königstochter den goldenen Apfel.

Der Königstochter blieb nun keine Ausrede mehr übrig. Sie teilten den Apfel des Lebens und aßen ihn gemeinsam. Da wurde ihr Herz mit Liebe zu ihm erfüllt, und sie erreichten in ungestörtem Glück ein wirklich hohes Alter.